Aus: Flann O`Brien;  Der dritte Polizist        London 1967


"Das ist wohlbekannt",  sagte ich.
"Das Brutto und Nettoresultat davon ist, dass die Persoenlichkeit von Menschen, die die meiste Zeit ihres natuerlichen Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieser Gemeinde mit eisernen Fahrraedern zu befahren, sich mit der Persoenlichkeit der Fahrraeder vermischt- ein Resultat des wechselseitigen Austauschs von Atomen-, und Sie wuerden sich ueber die hohe Anzahl von Leuten in dieser Gegend wundern, die halb Mensch, halb Fahrrad sind." 

Ich keuchte vor Staunen, und das hoerte sich in der Luft an wie ein defekter Reifen.

"Und sie waeren platt, wenn Sie wuessten, wie viele Fahrraeder es gibt, die halb menschlich, die halbe Menschen sind, die zur Haelfte dem Menschengeschlecht angehoeren."

"Sind Sie sich ganz sicher, was das Menschentum der Fahrraeder betrifft?" wollte ich von ihm wissen. "Ist die Atomtheorie so gefaehrlich, wie Sie sagen?"

"Sie ist zwei- bis dreimal so gefaehrlich, wie sie eigentlich sein duerfte", erwiderte er duester. "Frueh am Morgen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie viermal so gefaehrlich ist, und, darueber hinaus, wenn Sie ein paar Tage hier blieben, und ihrer Beobachtung freien Lauf liessen, dann wuessten Sie, wie gewiss die Sicherheit der Gewissheit ist."
"Gilhaney sah gar nicht wie ein Fahrrad aus", sagte ich. "Er hatte kein Hinterrad, und ich glaube nicht, dass er ein Vorderrad besass, obwohl ich seiner Vorderseite nicht viel Beachtung geschenkt habe."

Der Sergeant sah mich mit einigem Mitgefuehl an.

"Sie koennen nicht erwarten, dass ihm eine Lenkstange aus dem Hals waechst, aber ich habe noch unbeschreiblichere Dinge gesehen. Haben Sie bemerkt, wie seltsam sich die Fahrraeder in dieser Gegend benehmen?."

"Ich bin noch nicht lange in Ihrem Bezirk."

"Dann beobachten Sie die Fahrraeder, wenn Sie glauben, dass Ihnen permanente Verwunderung Vwergnuegen bereitet", sagte er. "Wenn ein Mann es erst mal soweit kommen laesst, dass er zur Haelfte oder mehr als zur Haelfte ein Fahrrad ist, sehen sie ueberhaupt nichts, weil er sich meistens mit einem Ellenbogen gegen Waende lehnt oder sich mit dem Fuss auf dem Kantstein abstuetzt.. Natuerlich gibt es noch anderes, das mit Damen und mit Damenfahrraedern zu tun hat, aber das werde ich Ihnen irgendwann separat erzaehlen. Immerhin ist das bemannte Fahrrad ein Phaenomen von grossem Zauber und grosser Intensitaet und ein sehr gefaehrlicher Artikel."

In diesem Moment naeherte  sich ein Mann mit langen, hinter sich ausgebreiteten Rockschoessen rasch auf einem Fahrrad und rollte den Huegel, der vor uns lag, im wohltuenden Freilauf hinunter. Ich betrachtete ihn mit dem Scharfblick von sechs Adlern und versuchte herauszufinden, welches das andere trug, ob es wirklich ein Mann war, der ein Fahrrad geschultert hatte. Ich schien jedoch nichts zu sehen, was denkwuerdig oder bemerkenswert gewesen waere.

Der Sergeant blickte in sein schwarzes Notizbuch.
"Das war O`Feersa", sagte er schliesslich. "Er belaeuft sich nur auf dreiundzwanzig Prozent."

"Er ist zu dreiundzwanzig Prozent ein Fahrrad?"

Ja."

"Bedeutet das auch, dass sein Fahrrad zu dreiundzwanzig Prozent Mensch ist?"

"So ist es."

"Wie viel sind es bei Gilhaney?"

"Achtundvierzig."

"Dann liegt O`Feersa weit niedriger."

"Das ist auf den gluecklichen Umstand zurueckzufuehren, dass drei aehnliche Brueder im Hause sind, und dass sie zu arm sind, um pro Stueck ein getrenntes Fahrrad zu besitzen. Manch Leute begreifen nie, wie sehr sie von Glueck reden koennen, wenn sie aermer sind als andere. Vor sechs Jahren hat ein O`Feersa in Preisausschreiben von John Bull  zehn Pfund gewonnen. Als ich von dieser Kunde Wind bekam, wusste ich, dass ich Schritte einleiten musste, wenn die Familie nicht zwei weitere Fahrraeder bekommen sollte. Gluecklicherweise kannte ich den Brieftraeger sehr gut. Der Brieftraeger ! Allmaechtige heilige leidende Hafergruetzengummischuessel !" Die Erinnerung an den Brieftraeger schien dem Sergeant Vorwand fuer nicht enden wollende Heiterkeit und Anlass fuer verworrene Bewegungen seiner roten Haende zu sein.

"Der Brieftraeger?" sagte ich.

" Einundsiebzig Prozent", sagte er leise.

"Grundguetiger !"

"Vierzig Jahre lang jeden Tag eine Runde von achtunddreissig Meilen mit dem Fahrrad, bei Hagel, Regen und Schneeball. Es besteht sehr wenig Hoffnung, ihn jemals wieder unter die Fuenfzig- Prozent- Marke zu druecken."

"Haben Sie ihn bestochen?"

"Natuerlich. Zwei von diesen kleinen Strippen, die man an der Radnabe befestigt, damit diese fein adrett und glaenzend bleibt."

"Und wie benehmen sich die Fahrraeder dieser Leute?"

"Die Fahrraeder dieser Leute?"

"Ich meine die Leute dieser Fahrraeder, oder wie immer die korrekte Bezeichnung lauten mag...diejenigen mit den zwei Raedern und der Lenkstange."

"Das Benehmen eines Fahrrades mit hohem Humanitaets- Anteil", sagte er, "ist sehr listig und ueberaus bemerkenswert. Man sieht nie, wie sie sich aus eigener Kraft bewegen, aber man trifft sie unerwartet an kaum erklaerlichen Orten. Haben Sie noch nie ein Fahrrad gesehen, in einer warmen Kueche gegen die Anrichte gelehnt, waehrend es draussen giesst?"

"Doch."

"Nicht weit vom Herd entfernt?"

"Ja."

"In Hoerweite, nah genug, um die Gespraeche der Familie zu verfolgen?"

"Ja."

"Weniger als tausend Meilen von den Essensvorraeten entfernt ?"

"Nicht dass ich wuesste. Sie wollen doch nicht sagen, dass diese Fahrraeder essen ?" 

"Sie wurden noch nie dabei beobachtet, niemand hat sie je mit einem Mundvoll Steak ertappt. Ich weiss nur soviel: das Essen verschwindet."

"Was!"

 "Mehr als einmal habe ich Krumen an den Vorderraedern dieser Herrschaften bemerkt."

"Das ist alles fuer mich ein schwerer Schlag", sagte ich.

"Niemand merkt etwas", erwiderte der Sergeant. " Mick denkt, Pat habe es verursacht, und Pat glaubt, Mick sei es gewesen. Nur wenige erraten, was in dieser Gemeinde vorgeht. Es gibt noch andere Vorfaelle, ueber die ich lieber nicht eingehend sprechen will. Es war einmal eine neue Lehrerin hier, und die hatte ein neues Fahrrad. Sie war noch nicht lange hier, als Gilhaney mit ihrem Damenfahrrad hinaus aufs einsame Land fuhr. Geht Ihnen auf, welch Unmoral dahinter steckt?"

"Oh, ja."

"Es kam noch schlimmer. Wie immer es Gilhaneys Fahrrad angestellt haben mag- es lehnte irgendwo, wo die junge Lehrerin herauseilte, um ganz schnell mit ihrem Fahrrad irgendwo hin zu fahren. Ihr Fahrrad war dann fort, aber da lehnte ja Gilhaneys Fahrrad in Reichweite und versuchte, Klein und bequem und anziehend auszusehen. Muss ich Ihnen noch sagen, was das Resultat war, oder was passierte ?.

"Nein, das muessen Sie nicht", sagte ich.

"Sehen Sie, da war es dann passiert. Gilhaney verbrachte einen Tag mit dem Damenfahrrad und umgekehrt auch vice versa, und es ist ganz klar, dass die in Rede stehende Dame einen hohen Anteil hatte- fuenfunddreissig oder vierzig Prozent, wuerde ich sagen, trotz der Neuheit des Fahrrades. Es hat so manches graues Haar auf meinen Kopf gebracht.; staendig ist man bemueht, die Leute in dieser Gemeinde im Zaum zu halten. Wenn man es zu weit gedeihen laesst, dann ist das der Anfang vom Ende. Dann kommen die Fahrraeder und verlangen das Wahlrecht, dann bekommen sie Sitze im Landtag und machen die Strassen noch schlechter, als sie ohnehin schon sind, um ihre weitgesteckten Ziele zu erreichen. Aber demgegenueber und andererseits ist ein gutes Fahrrad ein famoser Kamerad, uns es geht ein grosser Zauber von ihm aus."
"Wenn sein Anteil ueber Vierzig liegt, merkt man das unverkennbar an seinem Gang. Der Gang wird immer schneidig sein, er wird sich nie hinsetzen, er wir sich mit dem Ellenbogen an die Wand lehnen und so die ganze Nacht in der Kueche bleiben, anstatt ins Bett zu gehen. Wenn er zu langsam geht oder mitten auf der Strasse stehen bleibt, wird er der Laenge nach hinschlagen und sich von Dritten aufhelfen und anschieben lassen muessen. Die ist der traurige Zustand, in den der Brieftraeger sich geradelt hat, und ich glaube nicht, dass er sich je wieder herausradeln wird."

"Ich glaube nicht, das ich jemals Rad fahren moechte", sagte ich.